Autismus - die spezielle FähigkeitÜblich ist eher, dass Experten aus der Gesundheits- und Gehirnforschung über Autismus schreiben. Wenn aber eine Autistin als Forscherin unterwegs ist, dann lohnt sich ein näherer Blick.
Screenshot Michelle DawsonMichelle DawsonMichelle Dawson ist als Forscherin international geachtet. Sie glänzt mit Faktenwissen und ist überzeugt von ihren Thesen. Aber wenn sie mit ihren Kollegen essen geht, stößt die Expertin an ihre Grenzen, wie so oft im Alltag. Kochen, Einkaufen, Schnürsenkelbinden – das alles sei eine Katastrophe, erzählt sie. Und dann krempelt sie die Ärmel ihrer Bluse hoch und deutet auf die Narben auf ihren Unterarmen, verheilte Wunden, die sie sich selbst zugefügt hat.
Der Umgang mit anderen Menschen fällt schwerDawson leidet an einer schweren Form von Autismus. Probleme mit alltäglichen Dingen und selbst verletzendes Verhalten sind typische Symptome der tief greifenden Entwicklungsstörung. Das psychische Leiden zeichnet sich durch ein breites Spektrum von Auffälligkeiten aus. Autisten fällt der Umgang mit anderen Menschen sehr schwer, viele lernen erst spät, einige nie das Sprechen. Manche Betroffene sind unfähig, ein annähernd normales Leben zu führen.
Im eigenen ElementDass Michelle Dawson Autistin ist, fällt kaum auf, wenn man sie in ihrem ureigenen Element antrifft – inmitten einer Runde von Wissenschaftlern. Während eines Vortrags vor Kollegen an der kanadischen Universität Montreal doziert Dawson souverän über neue Erkenntnisse zum Autismus, den sie selbst erforscht. Sie spricht spontan, reagiert geschickt und mit Humor auf Zwischenfragen und kann während der anschließenden Diskussion mit einem Wissensschatz aufwarten, um den andere sie beneiden. Sie erinnert sich an kleinste Details aus jahrzehntealten Veröffentlichungen. Und sie nutzt diese, um kritische Fragen mit einer Lawine wissenschaftlicher Fakten zu ersticken. Michelle Dawson kennt keine Kompromisse.
Sowohl ein extrem gutes Gedächtnis als auch eine gewisse Hartnäckigkeit gelten als häufige Symptome von Autismus. In der Wissenschaft können diese Eigenschaften durchaus von Vorteil sein. Dawson ist denn auch überzeugt: „Ich bin als Wissenschaftlerin so erfolgreich, weil – nicht obwohl – ich autistisch bin.“
Offenlegung – Kündigung - MenschenrechtstribunalDabei hat sie keine klassische akademische Karriere absolviert und hatte bis vor 12 Jahren keinerlei Ahnung vom Wissenschaftsbetrieb. Ihren Job als Postbotin verlor sie, als sie ihren Vorgesetzten von ihrer Diagnose erzählte. „Ein schwerer Fehler“, sagt sie heute. Sie hatte die Vorurteile gegenüber Autisten unterschätzt.
Doch Dawson ging nach ihrer Kündigung vor das kanadische Menschenrechtstribunal. Es entschied zu ihren Gunsten. Für die Anhörung hatte sie zur Verblüffung aller Beteiligten die gesamte juristische Literatur über die Rechte von Behinderten ausgewertet. „Damals erkannte ich erstmals ihre ungewöhnliche Fähigkeit, neue Dinge zu lernen“, sagt Laurent Mottron. Der Psychiater an der Universität Montreal kannte Dawson bereits, weil beide gemeinsam für einen Dokumentarfilm über Autismus interviewt worden waren. Nach ihrem glänzenden Auftritt vor dem Tribunal bot er ihr eine Stelle an.
Die neue Mitarbeiterin überraschte ihn vom ersten Tag an.„Michelles Talente übertrafen alle meine Erwartungen“, erzählt Mottron. Als er Dawson mehrere Manuskripte zum Korrekturlesen gab, fand sie nicht nur, wie gebeten, Grammatik- und Rechtschreibfehler, sondern entdeckte Denkfehler und wies den Professor auf Widersprüche zu früheren Veröffentlichungen hin. Zusätzlich zu den Manuskripten hatte sie sämtliche im Literaturverzeichnis aufgelisteten Publikationen analysiert und geistig verarbeitet.
Dawson als AutorinMittlerweile ist Dawson selbst Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Sie hat die Einstellung vieler Autismusforscher zu der Störung gründlich verändert. „Dank Michelles Einfluss bin ich heute der Meinung, dass Autismus nicht unbedingt eine Behinderung ist, sondern sogar Vorteile haben kann“, sagt Mottron. Seine und andere Arbeitsgruppen haben inzwischen spezielle Begabungen von Autisten aufgedeckt.
Die autistische IntelligenzDawson bezeichnet die Vielfalt der ungewöhnlichen Stärken als „autistische Intelligenz“. Damit meint sie nicht die in der Öffentlichkeit bekannten, äußerst seltenen Inselbegabungen sogenannter Savants, die mit fantastischen Rechenkünsten oder musikalischem Genie brillieren. Weit verbreitet ist dagegen die Gabe vieler Autisten, sich kleinste Details zu merken, die anderen entgehen.
In jüngerer Zeit wurde die präzisere Auffassungsgabe für visuelle und akustische Eindrücke gemessen. Die neurologische Besonderheit ist vermutlich der Grund, warum manche Autisten exakter zwischen unterschiedlich hohen Tönen unterscheiden können und, wie jüngst bekannt wurde, ihre Sehkraft an die von Raubvögeln heranreichen kann.
„Autisten sind nicht dumm, sondern anders“Nichts hat das gängige Bild von Autismus jedoch so grundlegend in Frage gestellt wie Dawsons Versuche zum Intelligenzquotienten von Autisten. Etwa 75 Prozent aller Autisten werden als geistig behindert eingestuft. Dabei ist nicht der Intellekt autistischer Menschen minderwertig, sondern es sind die Verfahren, mit denen er gemessen wird. Dies entdeckten Dawson und ihre Kollegen, als sie die Intelligenz von Autisten mit unterschiedlichen IQ-Tests untersuchten. Der klassische Wechsler-Test erfordert ein hohes Verständnis für mündliche Sprache. Doch gerade damit haben Autisten oft Schwierigkeiten, und die Ergebnisse fallen entsprechend schlecht aus. Werden Autisten dagegen mit dem sogenannten Raven-Test geprüft, der nicht sprachliche Kompetenz, sondern hohe visuelle Analysefähigkeiten misst, fallen die Leistungen bis zu 30 Punkte höher aus.
„Wir Autisten sind nicht dumm, sondern anders“, konstatiert Dawson. Sie hat wie viele Autisten nicht den Wunsch, wie „Neurologisch-Typische“ zu sein. So bezeichnen Dawson und andere autistische Aktivisten „normale“ Menschen. „Ähnlich wie wir heute Gehörlose oder Homosexuelle voll akzeptieren, sollte in unserer Gesellschaft Platz für Autisten sein“, fordert auch Mottron.
Verhaltenstherapien für Kinder in der KritikDer positive Zugang zu der Störung wird nicht von allen Forschern geteilt. Auf Grund ihrer Studienergebnisse üben Dawson und Mottron nämlich Kritik an Verhaltenstherapien für autistische Kinder. Ob diese Behandlungen funktionierten, sei in vielen Fällen nicht ausreichend untersucht. Ähnlich wie andere medizinische Eingriffe müssten die Therapien streng wissenschaftlich evaluiert werden. „Wir unterstützen Maßnahmen, die Autisten das Alltagsleben und den sozialen Umgang erleichtern“, sagt Mottron. Es dürfe jedoch nicht das Ziel sein, Autisten in Nicht-Autisten zu verwandeln. Autismus lasse sich nicht heilen.
Neben Dawson arbeiten sieben weitere autistische Menschen in Mottrons Forschungsgruppe. „Alle tragen wegen unterschiedlicher Fähigkeiten Wichtiges zu unserer Arbeit bei“, sagt Mottron. Doch Dawsons Intellekt sei unübertroffen: „Michelle ist offensichtlich nicht nur autistisch, sie zeichnet sich auch durch extreme Intelligenz aus.“
Was genau Intelligenz ist und wie sie sich bei Autisten und Normalen unterscheidet, diese Frage treibt Dawsons Forschergeist an. Völlig rätselhaft ist ihr beispielsweise, warum Informationen in „normalen“ Gehirnen verloren gehen, während Autisten sie problemlos speichern. Fragen wie diesen will Dawson in Zukunft nachgehen. Denn das Gehirn findet sie „endlos faszinierend – auch das von normalen Menschen“.
Wenn ich eine persönliche Anmerkung hinzufügen darfVor einigen Jahren hatte ich die Aufgabe, einer Unternehmerin zu helfen, die Wirtschaftlichkeit Ihrer Praxis zu verbessern. Es wurde ein langer Weg, der auch persönlich wurde. So lernte ich Ihren Sohn kennen, der sehr zurückhaltend war. Dieser junge Mann sprach nur selten. Als ich einmal neben ihm saß, meinte ich zu spüren, was er dachte. Und erstmalig schaute er mich an. Ich sagte kein Wort - aber wir kommunizierten.
Roland Börck